VOM SPICKEN UND VOM SPÄHEN
Es ist ja so: Manche Leute investieren ihre Zeit in das Lernen, andere in das Austüfteln von Möglichkeiten, sich bei einer Prüfung auf unlautere Weise Vorteile zu verschaffen. Das Schöne am Lernen ist, dass man eine Sache danach auch kann und nicht nur eine gute Prüfungsnote hat. Online zu betrügen ist viel einfacher als in Präsenz zu spicken – sollte man meinen. Das ist aber nicht unbedingt der Fall. Wer die Nerven behalten kann, ist durchaus auch in Präsenz dazu in der Lage, richtig frech zu spicken. Ich erinnere mich zum Beispiel an Abiturtrainingsbücher, die – unterm Pulli verborgen und halb in der Hose steckend – auf dem Klo gelesen wurden, um nochmal sichergehen zu können. Die Überwachung in Präsenz muss bestimmte Bereiche stets aussparen. Die Toilette ist so eine Tabuzone. Oder der eigene Körper. Eine Freundin hatte während einer Englischprüfung mal sämtliche unregelmäßige Verben auf dem Oberschenkel stehen. Natürlich hat es keiner gewagt, ihr untern Rock zu schauen. Da geht schon einiges. Aber damals gab es auch noch kein Internet.
ERWACHSENE MENSCHEN IN PRÜFUNGSSITUATIONEN
Ich habe die Studiensituation in Zeiten von Corona aus beiden Perspektiven kennengelernt: Als Studentin und als Dozentin an einer Hochschule. Natürlich habe ich als Studentin kurz darüber nachgedacht, was alles möglich wäre – aber letztendlich war es mir wichtiger, die Dinge auch wirklich zu lernen, sonst hätte ich schließlich nicht nochmal studiert. Vor 20 Jahren hätte ich vermutlich anders darüber gedacht. Als Dozentin habe ich meine Studierenden keine Klausur schreiben lassen, sondern eine Seminararbeit samt Präsentation. Das macht mehr Arbeit und natürlich kann dabei auch fremde Hilfe in Anspruch genommen werden, aber das ist vor Corona auch schon so gewesen. Am besten hilft Vertrauen in die Vernunft der Studierenden, die sich ja selbst um eine Lernerfahrung (und einen Batzen Geld) bringen, wenn sie jemand anderen mit der Anfertigung ihrer Seminararbeit beauftragen. Das sind immerhin erwachsene Menschen.
Keinerlei Vertrauen haben allerdings Dozent*innen an diversen deutschen Unis während der Corona-Semester gehabt. Sie setzten automatisierte Prüfungsaufsichten wie die US-amerikanische Software Proctorio ein. Der Name erinnert nicht nur klanglich an Ärzt*innen, die sich auf Untersuchungen des Enddarms spezialisiert haben, sondern auch im Hinblick auf die unangenehmen Gefühle, die dabei aufkommen. Proctorio späht gezielt einen der privatesten Räume aus, die wir nutzen: unseren Rechner. Die Studierenden mussten die Software auf ihrem Computer installieren, damit diese den Einsatz unzulässiger Hilfsmittel ausmachen konnte. Ganz ehrlich? Ich hätte den entsprechenden Dozent*innen den Vogel gezeigt.
Ein derartiger Eingriff in die Privatsphäre geht definitiv zu weit, fand auch der baden-württembergische Landesbeauftragte für Datenschutz Stefan Brink. Der Scan von Rechnern soll nach den neuen, von Brink erarbeiteten Vorgaben, nicht mehr zulässig sein. Videoaufsicht bleibt zwar weiterhin erlaubt, aber eine Aufzeichnung wird künftig verboten sein.
Als Studentin, die selbst Take-Home-Exams geschrieben hat, kann ich nur sagen: Die Zeit reicht überhaupt nicht, um wirklich etwas nachzusehen. Man muss auch vor dem heimischen Rechner ordentlich vorbereitet sein, um eine Chance zu haben, eine gute Prüfungsleistung zu erreichen. Im Gegensatz zu Prüfungen in Präsenz kommen beim Take-Home-Exam noch einige technische Fallstricke hinzu, die bei den Studierenden zusätzlichen Stress verursachen. Strenge Abgabezeiten, die bei Präsenzprüfungen definitiv lockerer gehandhabt werden, haben bei einigen Menschen aus meinem Umfeld für böse Überraschungen gesorgt. 17 Sekunden zu spät abgegeben, weil die Verbindung lahm war – durchgefallen. Und das war kein Einzelfall.
Besondere Situationen erfordern eine gewissen Flexibilität. Im Hinblick auf Prüfungssituationen sollten nicht nur die vermeintlichen Vorteile der Studierenden in den Blick genommen werden, sondern auch zusätzliche Belastungsfaktoren. Eine völlig überzogene Überwachung, die private Grenzen verletzt, trägt definitiv nicht dazu bei, dass die Prüfungssituation als positive Herausforderung erlebt wird. In Zukunft wäre es vernünftig, datenschutzkonforme Lösungen zu finden (die es auch schon gibt) und sich Gedanken darüber zu machen, inwiefern Leistungen auch anderweitig erbracht werden können. Letztendlich war eines der größten Probleme die mangelnde Flexibilität von Seiten einiger Hochschulen und Universitäten, die „alles wie immer“ machen und dabei eben die Studierenden ganz genau im Blick behalten wollten.