Wer schon mal 30 geworden ist, kennt das Problem. Nach einer durchzechten Nacht wacht man plötzlich nicht mehr nach 2,5 Stunden Schlaf einigermaßen erholt und ohne schlimmere Schmerzen auf, um in den Tag zu starten, stattdessen dröhnt der Kopf, die Knochen knacken und man wird sich schlagartig dessen bewusst, dass man keine 20 mehr ist. Genauso geht’s dem Internet auch gerade…
Vor einem guten Monat hat das World Wide Web seinen 30. Geburtstag gefeiert und sein Vater, Tim Berners-Lee, ist nicht nur stolz, sondern auch besorgt angesichts der Entwicklung seines Sprosses, der am Schweizer Kernforschungszentrum CERN geboren und bald zu dem wurde, was er heute ist: eine Angelegenheit, ohne die sich kaum noch jemand den eigenen Alltag vorstellen kann. Was früher nur von Militär und Wissenschaft genutzt wurde, entwickelte sich in rasanter Geschwindigkeit zum Massenphänomen. Die dunklen Seiten der Popularität: Hass, Zensur, Desinformation und Datenmissbrauch. Genau diese Probleme hat Berners-Lee in einem offenen Brief beschrieben und ihrer Lösung hat er sich mit seiner Stiftung „Web Foundation“ verschrieben.
Vor wenigen Tagen, am vergangenen Mittwoch, veröffentlichte die Mozilla-Stiftung nun den dritten (oder zweiten, wenn der Prototyp nicht mitgezählt wird) Statusbericht für das Internet, den „Internet Health Report“. Die Diagnose ist eher durchwachsen. Während so mancher 30-Jährige sich mit dem Thema Alkoholmissbrauch herumschlägt und dafür vom Arzt eins auf den Deckel kriegt, hat das Internet Probleme mit dem Missbrauch von Daten und wird von Datenschutzbehörden verwarnt, die nicht den ICD-10 als Diagnoseschlüssel heranziehen, sondern die DSGVO.
MEDIZINISCHE MASSNAHMEN, DIE GAR KEINE SIND
Das Internet hat aber auch einiges zu verkraften. Mit gerade einmal 30 drohen ihm Sanktionen, die ganz schön an seinem Selbstbewusstsein rütteln: Artikel 11 und 13, denen kürzlich vom Europaparlament in Straßburg ohne Änderungen zugestimmt wurde, bedeuten zum Beispiel das Ende der Freiheit, die das ziemlich jugendliche Internet in Europa derzeit noch genießt. Die beschlossenen Uploadfilter führen zu noch mehr Zensur weltweit – das ist in etwa so, wie wenn ein Arzt jeglichen Sport verbieten würde, weil dabei ja das Risiko besteht, dass man sich verletzt. Also, ab ins Bett mit dem Internet! Da haben die ganzen Abgeordneten im Europaparlament ein wunderbares Ei gelegt. Das Problem ist nur: Sie sind keine Hühner und haben deshalb gar nicht sooo viel Ahnung vom Eierlegen…
Das Inkrafttreten einer neuen Gesetzgebung im Bereich des Urheberrechts führt dummerweise zu noch mehr Problemen, denn während jüngere und kleinere Unternehmen, die als digitale Frischzellenkur frischen Wind ins Netz bringen, sich teure Uploadfilter gar nicht leisten können, würde die Position von IT-Giganten zusätzlich gestärkt. Stellen Sie sich vor, ein Arzt würde sagen: „Auwehzwick, der Tumor ist ja ganz schön gewaltig! Wissen Sie was? Investieren wir doch einfach in den Tumor, statt in das Immunsystem – der hat offensichtlich deutlich bessere Chancen, sich durchzusetzen!“ Da kann der Patient noch so laut: „Nein, nein, nein! Ich will das nicht!“ rufen. Die geballte Kompetenzkompetenz liegt in diesem Fall bei den Abgeordneten, äh pardon: beim Arzt!
ICH FINDE DATENSCHUTZ TOTAL WICHTIG, ABER…
Dem Internet könnte es besser gehen, ganz klar! Aber im Sterben liegt es nicht, wie ein User das angesichts der Veröffentlichung des „Internet Health Reports“ diagnostiziert hat.
Mark Surberg von Mozilla.org zufolge, gibt es sogar eine gute Nachricht: Das Bewusstsein für Belange des Datenschutzes soll gestiegen sein. Sein Wort in Gottes Ohr! Wenn ich das nächste Foto von einem nackten Kleinkind, das gerade einen Steuerbescheid zerreißt in einer Müttergruppe sehe, werde ich darunter den total provokativen Hashtag #ichfindeDatenschutztotalwichtigaber ins Kommentarfeld posten, in der Hoffnung, dass sich dadurch das Bewusstsein für Datenschutz und Persönlichkeitsrechte noch stärker ausbildet. Datenschutz ist in Deutschland im Wesentlichen aus zwei Gründen ein Thema, dem verstärkt Aufmerksamkeit zukommt: In den Medien wird immer mehr darüber berichtet – an dieser Stelle möchte ich allen Hackern danken, die es immer wieder in die Nachrichten schaffen! – und die DSGVO hat vor allem im vergangenen Jahr für eine Menge Aufreger gesorgt (Skandale um Klingelschilder, Wunschzettel und Patienten in Wartezimmern usw.). Kurz: Die Datenschutzdebatte ist emotionaler geworden. Immer öfter geht es auch um die Überschreitung der „Gruselgrenze“, die so mancher IT-Gigant aus den Augen verloren zu haben scheint. 2011 äußerte sich der damalige Google-Geschäftsführer Eric Schmidt noch folgendermaßen dazu: „Google geht bis an diese Gruselgrenze heran, überschreitet sie aber nicht.“ (vgl. youtube-Video: „Google CEO and the creepy line of privacy“)
Mittlerweile haben immer mehr Menschen die Überschreitung dieser creepy line miterlebt und teilweise auch Konsequenzen daraus gezogen. Viele von uns haben sich aber auch schlichtweg daran gewöhnt – Facebook & Co sind einfach viel zu bunt und spaßig, um ganz darauf zu verzichten. Datenschutz wird genau dann langweilig, wenn er als Captain Reality auf die Spaßbremse tritt und uns das vermiest, woran wir uns längst gewöhnt haben. Das fühlt sich dann genauso an, wie wenn der Arzt sagt: „Eine Ernährungsumstellung wäre dringend geboten – und lassen Sie mal besser das Feierabendbier weg!“ Und jetzt mal Hand aufs Herz: Wer setzt das dann auch wirklich um?