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Es gibt Dinge, von denen man keine Ahnung hat, was sie kosten könnten. Da fehlt schlichtweg der Vergleich. Wird ein Künstler gefragt, was er für einen Auftritt verlangt, fällt dem Fragenden danach regelmäßig die Kinnlade runter. „Waaaas? 200 Euro für eine Lesung?! Das ist ja ein Stundenlohn von über 100 Euro!“ Da werden die Stunden, die in die Vorbereitung investiert werden mussten, schlichtweg nicht gesehen. Eine verschrabbelte Autotür, die neu lackiert werden muss, kickt in einer ähnlichen Liga. Meistens halten wir Dinge, die nicht gerade dafür entwickelt wurden, zum Mars zu fliegen, für viel zu teuer.
Und dann gibt es SAP. Die können für Software so ziemlich jeden Preis verlangen, weil sie eben das größte europäische Softwareunternehmen sind. Und wer groß ist, muss Ahnung haben, alle anderen wahrscheinlich nicht – das ist wohl die Logik der Bundesregierung, die das Unternehmen aus dem baden-württembergischen Walldorf mit der Entwicklung der Corona-Warn-App beauftragt hat.
Denkbar wäre es ja auch gewesen, zu sagen: „Leute, ich schmeiß mal eine Million Euro in den Ring! Die kann haben, wer hier schnell ne gute und sichere App entwickelt!“ So ist doch unsere Bundesregierung nicht! Die investiert lieber 20 Millionen Euro in einen Giganten, der bekannt für seine unverschämte Preispolitik ist. Und selbst die Zeit erklärte am 11. Juni basierend auf einer dpa-Meldung in einem Untertitel: „Nächste Woche soll die App vorgestellt werden – und ist offenbar relativ günstig: Aus Regierungskreisen hieß es, angesichts des Aufwands seien die Kosten „erfreulich“.“ Klar, erfreulich vor allem für SAP…
Es gibt zahlreiche kleine und mittelständische Softwareunternehmen in Deutschland, die eine ganze Menge können – vor allem Software entwickeln. SAP kann das auch. Gucci und Louis Vuitton können auch Taschen machen. Nur würde ich nicht wollen, dass die Bundesregierung, falls Abgeordneten eine Diensttasche für ihre Akten zustehen sollte, Gucci oder Louis Vuitton mit der Anfertigung beauftragen und das dann mit Steuergeldern finanzieren würde.
Bei der Corona-Warn-App wurde aber genau das getan! Warum? Weil es offenbar stärker um Prestige geht als um Zweckmäßigkeit. SAP hat mit dieser App, die natürlich auch zweckmäßig, sinnvoll und sogar DSGVO-konform ist, das Rad nicht neu erfunden, zumal die Basistechnologie von Google und Apple geliefert wird. Im vergangenen Semester haben wir in einer Wirtschaftsinformatikvorlesung etwas über Anwendungsmöglichkeiten von Bluetooth Low Energy (BLE) gelernt, das auch für die Corona-Warn-App maßgeblich ist. Mit Hilfe dieser Technologie könnten Kunden in Einkaufszentren zum Beispiel aktuelle Angebote von Läden, die sie passieren, aufs Handy geschickt bekommen, falls sie diesen Service in Anspruch nehmen wollen. Es ist wirklich keine Raketenwissenschaft!
Aber weil offenbar selbst Zeit-Journalisten derartige Mondpreise nicht infrage stellen, nur weil die Gucci-Regierung die Kosten als „erfreulich“ eingestuft hat, denkt auch sonst kaum jemand darüber nach, dass 20 Millionen Euro – plus monatliche Betriebskosten in Höhe von 2,5 bis 3,5 Millionen Euro u.a. für Call-Center, die die Telekom zur Verfügung stellt – vielleicht doch ziemlich teuer sein könnten. Warum erkundigen sich Journalisten eigentlich nicht nach dem Markt, bevor sie so etwas veröffentlichen? Das wäre doch sicher ein spannendes Thema! Vielleicht könnten dann auch interessante Artikel wie „Was kostet eine Doppelhaushälfte in Niederwinkling? 2.000 Euro oder 200 Millionen Euro?“ nachfolgen.
Softwareentwicklung ist eine anspruchsvolle Sache, die auch entsprechend honoriert werden muss. Aber dabei jegliche Verhältnismäßigkeit zu verlieren und 20 Millionen Euro an Steuergeldern für etwas zu bezahlen, das es in gleicher – oder vielleicht sogar besserer – Qualität möglicherweise sogar schneller von einem kleineren Unternehmen hätte geben können, ist eine Unverschämtheit dem Steuerzahler und fähigen Wettbewerbern gegenüber. Und kaum jemand sagt etwas, weil viel zu wenige Menschen wissen, was gewisse Dinge kosten.