MUSS DIE RUSSISCHE SICHERHEITSSOFTWARE NEU BEWERTET WERDEN?
Es ist ja so: Wir haben ein großes Problem damit, mit Gleichzeitigkeiten umzugehen. Stattdessen wollen wir immer Eindeutigkeit haben: entweder – oder. Wenn es einen klaren Feind gibt, ist es einfach, Stellung zu beziehen, möchte man meinen. Aber wir leben nicht im „Es wäre schön, wenn…“, sondern im Jahr 2022. Da ist alles etwas komplexer. Und all das müssen wir bei Entscheidungen berücksichtigen.
IT-Sicherheit und wem wir sie in die Hände legen, ist derzeit ein heiß diskutiertes Thema. Kaspersky Lab gilt als eines der besten auf Sicherheitssoftware spezialisierten Unternehmen. Neben einem Antivirenprogramm hat Kaspersky diverse Sicherheitspakete im Angebot, außerdem einen Passwortmanager, eine Kindersicherung, einen VPN-Dienst und ein Cloud-basiertes Anti-Cheat-Tool für e-Sport-Turniere. Aber, Kaspersky kommt aus Russland. Und das ist derzeit fast für den ganzen Rest der Welt ein Problem. Boykottaktionen und Sanktionen sind mittlerweile zu etwas Alltäglichem geworden. Jetzt könnte man natürlich sagen: „Okay, aber Russen und russische Unternehmen sind ja nicht gleichzusetzen mit der gegenwärtigen russischen Politik!“ Und folglich wäre es möglich, festzustellen, dass es zum Glück doch kein Problem ist, weiterhin die Software von Kaspersky zu nutzen, so wie das Computermagazin CHIP das gerade macht.
Also, was jetzt? Ja oder nein?
ZEN IN DER KUNST DER VIRENSCANNERWAHL
Wenn wir einen Zen-Buddhisten dazu befragen würden, könnte der antworten: „Es ist ein Problem und es ist kein Problem.“ Und er hätte recht damit, denn wir können tatsächlich nicht ausschließen, dass es nicht zumindest zum Problem werden könnte. Das klingt natürlich furchtbar unbefriedigend. Mit Unsicherheit können wir kaum umgehen. Wir ertragen sie nicht.
Einerseits hat Kaspersky eine Transparenzinitiative gestartet – und zwar bereits nachdem es u.a. 2017 zu Zweifeln an der Sicherheit der russischen Software gekommen war. Seit damals dürfen US-Behörden die Sicherheitssoftware auch nicht mehr einsetzen. Die Kaspersky-Holding ist mittlerweile auch in London angesiedelt und Anne Mickler, Corporate Communications Manager DACH bei Kaspersky beteuert: „Wir sind ein privat geführtes, unabhängiges Unternehmen, das seit vielen Jahren in internationaler Zusammenarbeit gegen Cyberbedrohung kämpft. Oberste Priorität hat der Schutz unserer Kunden.“ Es ist ihr Job, solche Dinge zu sagen. Dass die Software zur „Cyberwaffe Putins“ wird, ist sehr unwahrscheinlich – dafür hat das Unternehmen zu viel zu verlieren.
Was wir allerdings oftmals ausblenden, sind die unterschiedlichen Bedingungen, unter denen Unternehmen in Russland und solche außerhalb von Russland agieren müssen. Wenn wir erwarten, dass sich russische Unternehmen klar vom Krieg in der Ukraine distanzieren, ist das in vielen Fällen nicht so leicht machbar. Das hat zum Beispiel damit zu tun, dass Russen nicht von „Krieg“ sprechen dürfen, sondern allenfalls von einer „Spezialoperation“. Derzeit wird sogar ein neues Gesetz ausgearbeitet, das die Verbreitung angeblicher „Desinformation“ eindämmen soll. 15 Jahre Gefängnis würden dann demjenigen drohen, der die „Aufrechterhaltung des Friedens“ in der Ukraine durch das russische Militär anzweifeln würde. Keine sehr verlockenden Aussichten für einen Unternehmer. Und global agierende Firmen mit Sitz in Russland bringt dies natürlich in die Bredouille: Sie können die Gesetzgebung in ihrem eigenen Land nicht ignorieren, müssen aber den Ansprüchen internationaler Kunden gerecht werden.
Eine Sicherheitssoftware wechselt man nicht wie seine Unterhosen. Aber bei Unsicherheit im Sicherheitssektor sollte eine Entscheidung am besten so gefällt werden, dass die sicherere Variante bevorzugt wird. Und die lautet in diesem Fall: Suchen Sie sich eine Sicherheitssoftware, die aus einem EU-Land kommt und gleichzeitig zuverlässig ist.
Und so ist die geopolitische Situation wieder einmal in unserem Alltag angekommen. Wir zahlen mehr für Benzin, Speiseöl und Heizöl – und jetzt sollen wir uns auch noch von unserem gewohnten Virenscanner verabschieden? Wenn wir ganz sichergehen wollen, ja.