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Stellen Sie sich vor, Sie hätten einen Partner, der Ihnen immer zuhört, nie einen Geburtstag oder einen anderen für Sie wichtigen Termin vergisst, genau weiß, wann Sie sich wo aufhalten – oh, Moment, jetzt wird’s gruslig. Nochmal zurück: Keinen wichtigen Termin vergisst, Ihnen jeden Wunsch von den Augen ablesen kann – sogar noch bevor dieser Wunsch in Ihnen selbst wirklich Gestalt angenommen hat, jemand, der immer für Sie da ist und Ihnen überallhin folgt, sogar aufs Klo… Halt, jetzt wird’s wieder creepy! Irgendwo gibt es scheinbar eine Grenze, einen schmalen Grat zwischen Liebe und übergriffiger Distanzlosigkeit, die kein Mensch angenehm findet. An einem bestimmten Punkt kippt etwas Angenehmes und wird plötzlich unangenehm. In einer Beziehung spüren wir das normalerweise ziemlich schnell, weil wir ja unmittelbar mitbekommen, wann aus einem aufmerksamen Partner ein Psycho wird.
Was wir allerdings nicht mitbekommen, sind die vielfältigen Beziehungen, die wir zu Unternehmen haben. Was erstmal ziemlich unemotional klingen mag, ist in Zeiten von Big Data allerdings sehr emotional. Unternehmen befriedigen zahlreiche unserer Bedürfnisse (okay, wer im Wald lebt und sich von Bucheckern und Pilzen ernährt, muss hier nicht weiterlesen…) und stehen in einer engen Beziehung zu uns. Wer schon mal eine Doku über die Arbeitsbedingungen oder das umstrittene Retourenwesen bei Amazon gesehen hat, müsste eigentlich denken: „Oh, das ist aber nicht schön! Da kauf ich doch lieber anderswo.“ Aber in einer engen Beziehung sieht man nun mal über einiges hinweg: „Hauptsache, der ist zu mir nett – der Rest kann mir eigentlich egal sein!“
Kürzlich haben norwegische Datenschützer eine knapp 200 Seiten umfassende Studie veröffentlicht, in der es um Datensammelpraktiken geht, die so ziemlich jeden von uns betreffen. Untersucht wurden zehn beliebte Apps wie die Dating-wisch-und-weg-App Tinder, die Dating-Apps Grindr und OkCupid, die Zyklus-Tracker My Days und Clue, die Social-Search-App Happn und die Tastatur-App Wave Keyboard Background. Analysiert wurde der Datenfluss zu Dritten. Und – Überraschung! – der war ganz schön umfangreich. Im Zusammenhang mit Datingapps und Zyklustrackern, die tendenziell Daten sammeln, die sehr privater Natur sind, keine sehr schöne Vorstellung.
„FIRST WE LISTEN!“ – BLÖDSINN MIT LÖTZINN
Die Dating-App OkCupid gibt z.B. ausgesprochen persönliche Daten wie Angaben zur sexuellen und politischen Orientierung und zum Drogenkonsum an die Braze Inc. weiter, die bereits 2011 unter dem Namen Appboy gegründet und 2017 in Braze umbenannt wurde, weil das so ein schönes Bild ist, denn „to braze“ heißt „löten“. Das Cloud-basierte Softwareunternehmen lötet sehr erfolgreich Kunden und Marken zusammen. Im Firmenspot wirbt die Customer Engagement Platform damit, „strong bonds between people and the brands they love“ zu createn. Aus dem Kopf eines Kundenstrichmännchens steigen fliegende Herzchen auf. Das ist Liebe! Plötzlich wird die Welt rosa und das rundköpfige Kundenstrichmännchen bekommt ein Gegenüber mit eckigem Kartonkopf: die Marke. Es geht um „real and longlasting relationships“ und um die Frage, wie man das hinbekommt. Das Geheimnis sind die Gespräche! Man muss ständig kommunizieren und in touch keepen. Aber niemand mag Leute, die dauernd nur reden und nicht zuhören, heißt es schließlich. Genau so funktioniere aber herkömmliche Werbung. Im Spot bewirft der Marken-Kartonkopf den Kunden-Rundkopf mit Newslettern – der Kunde wird förmlich aus der Beziehung gekickt. Und dann kommt Braze ins Spiel: „First we listen!“ Anschließend wird erklärt, dass Unternehmen, die mit Brazezusammenarbeiten, das Leben ihrer Kunden genau tracken könnten – was tut der Kunde wann und wo? Anschließend können die „Messages“ basierend auf dem ermittelten Kundenverhalten punktgenau platziert werden. Was für eine schöne Vorstellung von einer Beziehung! Nicht.
ES GINGE AUCH ANDERS
In der umfangreichen norwegischen Studie, die den alarmierenden Titel „Out of control. How consumers are exploited by the online advertising industry“ trägt, wird auch die rechtliche Zulässigkeit der fragwürdigen Datensammelpraktiken untersucht. Wenig überraschend ergibt sich, dass vieles unzulässig im Sinne der DSGVO ist, denn „Data subjects are not informed of how their personal data is shared and used in a clear and understandable way, and there are no granular choices regarding use of data that is not necessary for the functionality of the consumer-facing services”. Hinzu kommt der Mangel an öffentlichem Bewusstsein, denn das Problem und mögliche negative Konsequenzen für den Verbraucher werden ja immer nur von Datenschützern diskutiert, die in etwa in der gleichen Liga wie Schlaubi-Schlumpf kicken. Die norwegischen Datenschützer fordern, dass die Politik mehr in die Verantwortung genommen werden müsse – nicht nur im Hinblick auf eine reformierte ePrivacy-Verordnung, sondern auch in Bezug auf wettbewerbsrechtliche Belange. Problematisch wäre vor allem die Konzentration von Daten in der Digitalwirtschaft bei Giganten wie Google, Amazon und Facebook. Auch Marketer werden zum Umdenken aufgefordert. Ein neues Modell müsse her, denn die Überwachung des Kunden, um ihm ständig passende personalisierte Werbung präsentieren zu können, sei nicht gerade sinnvoll, wenn ein Adblocker Werbung unterdrücke.
Ach ja, irgendwann werden wir mal auf das Jahr 2020 zurückblicken können und unseren Enkeln erzählen: „Weißt du, damals war’s im Netz wie im Wilden Westen. Da haben die aus dem Silicon Valley alle möglichen Daten über uns gesammelt und uns ganz schön viel überteuertes und überflüssiges Zeug verkauft. Nur keine anständige Versicherung, weil wir uns wohl falsch ernährt und zu wenig bewegt haben. Und jetzt pass gefälligst auf, dass du nicht schon wieder gegen die Glaskuppel fliegst!“